Fast fünfzig Jahre für 42 Prozent. Auch nach der Annahme des Frauenwahlrechts blieb das Bundeshaus lange in Männerhand. Der Wahlherbst 2019 änderte dies schlagartig: Noch nie wurden so viele Frauen gewählt. Seither besetzen sie 42 Prozent der Sitze in der grossen und 26 Prozent der Sitze in der kleinen Kammer.
Wie verändert dieser historische Höchststand des Frauenanteils die Politik? Eine Datenanalyse in drei Punkten zeigt, was die Politikerinnen in Bundesbern konkret bewirkt haben.
«Je mehr Frauen anwesend sind, desto weniger spielt ihr Geschlecht eine Rolle.»
84 Frauen politisieren seit dem Wahlherbst 2019 im Nationalrat – das sind 20 mehr als in der vorangegangenen Legislatur. Lässt das neue Geschlechterverhältnis die Mehrheiten kippen? Um diese Frage zu beantworten, muss man das neue über das alte Parlament legen: Werden alle Abstimmungen der letzten Legislatur entsprechend der Zusammensetzung des 2019 gewählten Nationalrats neu simuliert, zeigt sich: 350 von 3535 Abstimmungen wären anders herausgekommen.
Doch bei keiner dieser Abstimmungen war der Frauenanteil innerhalb der Parteien ausschlaggebend für das andere Resultat. Dass zehn Prozent der Geschäfte mit der neuen Konstellation im Nationalrat gekippt wären, ist stattdessen auf die veränderten Parteienstärken zurückzuführen.
Trotzdem setzen die Parlamentarierinnen geschlechtsspezifische Akzente. Die systematische Analyse der 271 bisherigen Gesamt- und Schlussabstimmungen dieser Legislatur zeigt, in welchen drei Bereichen sie von der Haltung ihrer männlichen Parteikollegen abweichen.
Sollen Homosexuelle heiraten dürfen? Diese Frage spaltet die Frauen und Männer in den konservativen Parteien. So haben der Ehe für alle in der SVP 45 Prozent der Nationalrätinnen, aber nur 18 Prozent der Nationalräte zugestimmt. Auch in der Mitte-Fraktion stimmen der Homosexuellen-Ehe zwei Drittel der Frauen, aber nur ein Viertel der Männer zu. Dasselbe Muster zeigt sich in den beiden Fraktionen auch bei der Frage, ob Transsexuelle ihr Geschlecht sowie ihren Vornamen im Personenstandsregister ändern dürfen.
In der CVP hat diese Diskrepanz eine lange Tradition: Die Frauensektion gehörte immer dem linken, liberalen Flügel der Partei an und kämpfte mal mehr, mal weniger laut gegen die konservativen Ansichten der männlichen Parteivertreter aus den Stammlanden. In der SVP ist es vorab eine jüngere Politikerinnengeneration, die teilweise progressivere Positionen vertritt. Dabei zeigt sich gemäss Lukas Golder, Co-Leiter von GFS Bern, in der SVP ein neues Muster: Nach dem Wegbruch der BDP musste sich in der Fraktion eine neue Generation von Frauen durchsetzen, die nun konservative Haltungen mit postmateriellen Werten wie eben einer hohen Gewichtung individueller Freiheiten verknüpft.
«Frauen in der Mitte sind sehr offen. Dies wird jetzt sichtbar.»
Was bedeutet liberale Drogenpolitik? In der FDP sind die Pilotversuche zur kontrollierten Abgabe von Cannabis umstritten. 90 Prozent der Frauen, aber nur 59 Prozent der Männer in der Fraktion waren dafür. Auch das ist typisch: Die FDP-Frauen sind traditionell progressiver als die Männer.
Ein Sonderfall ist die Burkainitiative, über die wir demnächst abstimmen. Besonders gross war der Unterschied bei den Grünen. Ein Drittel der Männer, aber keine Frau sprach sich dort für einen Gegenvorschlag aus, weil es keinen Handlungsbedarf gebe. In der Mitte und der FDP war es genau umgekehrt: Dort fanden vor allem die Frauen, ein Gegenvorschlag mache Sinn, während die Männer zurückhaltender waren. Der Grund: «Je weiter links, desto zentraler ist die Genderfrage für die Frauen, desto kompromissloser politisieren sie in diesem Bereich», beobachtet Golder.
Sollen Kinder bereits vor dem Kindergarten staatlich gefördert werden? Und sollen ältere Arbeitslose eine Überbrückungsrente erhalten? In den Parteien rund um die Mitte unterscheiden sich die Haltungen zwischen den Geschlechtern auch in bildungs- und sozialpolitischen Fragen. Die Frauen stimmen in diesen Bereichen häufiger mit der linken Ratsseite als die Männer. «Frauen erkennen wegen der Erziehungsarbeit und weil sie vermehrt in der Bildung und dem Sozialwesen beruflich tätig sind, mehr Handlungsbedarf als Männer», sagt Golder.
Sollen in der Schweiz strengere Vorgaben gelten, um den CO₂-Verbrauch zu senken? Und sollen die Umweltauflagen für Wasserkraftwerke gelockert werden? Diese beiden Abstimmungen offenbaren einen Graben in der FDP. FDP-Chefin Petra Gössi hat mit ihrem Ziel, die Partei grüner zu machen, die Frauen in der Fraktion besser erreicht als die Männer. 100 Prozent der Frauen stimmten der Revision des CO₂-Gesetzes zu, bei den Männern waren es 82 Prozent.
Wie lange reden Nationalrätinnen? Und wie verhält sich ihre Redezeit im Vergleich zu den Männern? Eine Analyse der Transkriptionen aller Wortmeldungen der vergangenen zwanzig Jahre zeigt: Frauen reden im Nationalrat länger als Männer – durchschnittlich 14,2 Minuten pro Session (Männer: 12,8 Minuten).
Dabei zeigt sich eine Entwicklung: Je mehr Frauen im Nationalrat sitzen, desto kürzer wird ihre durchschnittliche Sprechzeit. Sie hat sich über die Jahre hinweg jener der Männer angeglichen. Am besten kennen die jeweiligen Ratspräsidenten das Redeverhalten im Nationalrat – sie müssen allen Voten zuhören. Die heutige Ständerätin Marina Carobbio (SP) hatte dieses Amt 2018/19 inne. Sie sagt: «Weil es früher weniger Nationalrätinnen gab, nutzten sie die Zeit länger, wenn sie das Wort hatten.» Carobbio hat einen Unterschied in der Rhetorik der Geschlechter beobachtet: «Nationalrätinnen wiederholen die Aussagen ihrer Vorredner tendenziell weniger als Nationalräte, sie sprechen dann, wenn sie neue, eigene Gedanken haben.»
«Als Grüne bin ich Teil der Opposition. Es gibt viel zu tun.»
Trotz der längeren individuellen Redezeiten der Frauen redeten die Männer in den vergangenen zwanzig Jahren in der Summe länger. Gesamthaft beanspruchten sie eine doppelt so lange Redezeit, auch wenn ihre einzelnen Voten kürzer dauerten als jene der Frauen. Die Gesamtdauer der Wortmeldungen von Männern beträgt durchschnittlich 29,9 Stunden pro Session, jene von Frauen 14 Stunden.
Obwohl die gesamthafte Redezeit der Frauen mit den Jahren zugenommen hat, bleibt eine grosse Differenz zu den Männern. Im vergangenen Jahr haben Männer in der Summe siebeneinhalb Stunden länger geredet als Frauen.
Das liegt zum einen an ihrer Überzahl, zum anderen aber auch an ihren Rollen: Männer sind immer noch häufiger Kommissions- oder Fraktionssprecher als Frauen, weil diese Funktionen Parlamentariern vorbehalten sind, die erfahrener sind und die Geschäfte besser kennen.
Wie häufig reichen Parlamentarierinnen Vorstösse ein? Und zu welchen Themen? Frauen waren in den letzten zwanzig Jahren mit durchschnittlich 5,6 Motionen pro Legislatur aktiver als Männer (4,8). In der vergangenen Legislatur hat sich das Verhältnis erstmals umgekehrt.
Über die Zeit zeigt sich ein Muster: Je ausgeglichener das Geschlechterverhältnis im Nationalrat ist, desto ausgeglichener wird auch das Verhältnis der von Männern und Frauen eingereichten Vorstösse. Männer und Frauen setzen mit ihren Motionen unterschiedliche Schwerpunkte. In der aktuellen Legislatur sind die Frauen aktiver in den Bereichen Gesundheit, Umwelt und soziale Fragen, die Männer in den Themen Wirtschaft, Staatspolitik und Arbeit.
Vorstosskönigin bei den Frauen ist aktuell mit 8 Motionen die neu gewählte Léonore Porchet (Grüne). Bei den Männern ist Jean-Luc Addor (SVP) mit 12 Motionen unverändert Spitzenreiter. Zu den aktiven Neupolitikerinnen gehören auch Meret Schneider (Grüne), Martina Bircher (SVP) und Delphine Klopfenstein Broggini (Grüne) mit jeweils 6–7 Motionen.
«Im Wahlkampf habe ich versprochen, mich in der Ausländer- und Asylpolitik einzusetzen. Entsprechend reiche ich Vorstösse ein.»
Auffällig ist, dass die neu gewählten Parlamentarierinnen auf jene Themen setzen, die man als traditionelle Männerthemen bezeichnen könnte. Dies ergibt ein Vergleich mit jenen Politikerinnen, die schon vor 2019 im Nationalrat sassen: Die Themen Wirtschaft, Migration, Landwirtschaft, Energie, Sicherheitspolitik oder Steuern werden von den neu gewählten Frauen stärker bearbeitet, soziale Fragen, Medien und Kommunikation, Staatspolitik oder Strafrecht hingegen weniger.
Hat sich also die politische Kultur fundamental geändert, seit im Bundeshaus mehr Frauen mitwirken? Ja, ist Politologe Lukas Golder überzeugt. «Frauen sind im Schnitt fähiger für das politische System der Schweiz, weil sie eine konkordantere Kultur leben. Sie gehen ergebnisoffener aufeinander zu und reden miteinander, ohne sich selber in den Vordergrund zu stellen.» Deswegen seien sie in der Regel auch bessere Bundesrätinnen, sagt Golder. Die Frauenwahl von 2019 habe insofern oppositionellen Charakter gehabt: «Viele Wählerinnen und Wähler hatten genug vom aggressiven Politstil und von der Polarisierung. Sie wollten einen Neuanfang.»
Als Grundlage diente die Datenbank des Parlaments, die über eine öffentliche Datenschnittstelle abrufbar ist. Folgende Informationen sind verfügbar und wurden für diese Analyse verwendet:
Für jede einzelne Abstimmung im Nationalrat während der 50. Legislatur wurde berechnet, wie gross der Anteil Ja-Stimmen der Frauen und der Männer in jeder Fraktion war. Zudem wurde berechnet, wie viele Sitze jede Fraktion auf sich vereint und wie gross der Anteil der Frauen innerhalb einer Fraktion ist. Um herauszufinden, ob Abstimmungen der vorigen Legislatur dank neuer Frauen- und Fraktionsstärke im heutigen Nationalrat anders herausgekommen wären, wurde für jede Abstimmung ein hypothetisches Resultat berechnet: Die effektiven Anteile der Fraktionen und Geschlechter der 50. Legislatur wurden ersetzt durch die jeweiligen Anteile in der jetzigen Legislatur.
Es wurden nur Abstimmungen berücksichtigt, bei denen mindestens 180 der 200 Parlamentarierinnen und Parlamentarier effektiv abgestimmt haben. Bei 3535 von 4470 Abstimmungen war dies der Fall. Diese Analyse wurde nur für den Nationalrat gemacht, da die Abstimmungen im Ständerat nicht öffentlich sind.
Dabei zeigt sich, dass 350 der 3535 Abstimmungen in der Legislatur 50 mit dem neuen Parlament gekippt wären. Wenn man für die Berechnung nur die neue Parteienstärke berücksichtigt, sind es dieselben Abstimmungen, die im neuen Parlament gekippt wären. Das heisst, keine der Abstimmungen wäre nur aufgrund der veränderten Geschlechterverteilung gekippt.
Für alle Schluss- und Gesamtabstimmungen im Nationalrat der 51. Legislatur wurde die Differenz der Ja-Anteile der Frauen und der Ja-Anteile der Männer innerhalb der Fraktionen gebildet. Um die Abstimmungen mit der grössten Geschlechterdiskrepanz zu bestimmen, wurde für jede Abstimmung die Summe dieser Differenzen über alle Fraktionen gebildet. Die GLP wurde nicht berücksichtigt, da sie die kleinste Fraktion ist. Es wurden nur Abstimmungen berücksichtigt, bei denen mehr als 90 Prozent der Parlamentsmitglieder eine valide Stimme (Ja/Nein) abgegeben haben.
Um die Fraktion mit der grössten Geschlechterdiskrepanz zu bestimmen, wurde wiederum der Mittelwert dieser Differenzen über alle Abstimmungen der jeweilige Fraktion gebildet. Dabei wurden für jede Fraktion nur diejenigen Abstimmungen berücksichtigt, bei denen mehr als 90 Prozent der Mitglieder der jeweiligen Fraktion eine valide Stimme (Ja/Nein) abgegeben haben.
In der Datenbank sind der Beginn und das Ende jeder Wortmeldung aufgeführt. Daraus lässt sich die Länge der Wortmeldung ableiten. Es werden alle Wortmeldungen von Parlamentarierinnen und Parlamentariern im Nationalrat berücksichtigt, wobei die Nationalratspräsidentin in der jeweiligen Session nicht berücksichtigt wird.
Die Auswertung der Vorstösse basiert auf allen von Nationalratsmitgliedern eingereichten Motionen der letzten fünf Legislaturperioden. Motionen gehören zu den meistgenutzten parlamentarischen Vorstössen. Sie beauftragen den Bundesrat, Gesetzesentwürfe oder Massnahmen auszuarbeiten. Motionen eignen sich deshalb, um die parlamentarische Arbeit eines Nationalratsmitglieds zu analysieren. Jede dieser Motionen ist in der Datenbank des Parlaments mit mindestens einem Themen-Schlagwort versehen. Anhand der Schlagworte lässt sich ermitteln, welche Themenschwerpunkte Parlamentarierinnen und Parlamentarier setzen.
Mehr Details zur Methodik finden Sie auf unserem Github Account.